Im Februar 2016 veröffentlichte UNICEF unter dem Titel „FEMALE GENITAL MUTILATION/CUTTING: A GLOBAL CONCERN“ die bislang umfangreichste Datensammlung aus 30 Ländern, in denen weibliche Genitalverstümmelung (FGM) praktiziert wird. Der Studie zufolge sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen. Da Daten zum Vorkommen der Praktik schwierig zu erheben sind, liegt die eigentliche Zahl wahrscheinlich noch deutlich höher. Auch konnten Länder, zu denen es kein Datenmaterial gab, nicht erfasst werden. UNICEF fordert daher mehr und bessere Daten, um Fortschritte bezüglich der Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung zu messen.
Terres des Femmes schätzt die Zahl der betroffenen Mädchen und Frauen bis auf das Doppelte, da FGM nicht nur in afrikanischen Ländern praktiziert werde und Länder im Nahen Osten und in Südostasien in der UNICEF-Studie mangels Daten nur unzureichend berücksichtigt worden seien. Terres des Femmes bezieht sich auf eigene Recherchen in Asien (Indonesien, Malaysia, Sri Lanka, Thailand, Indien, Pakistan) und im Nahen Osten (Irak, Iran, Oman, Jemen, Saudi-Arabien und Vereinte Arabische Emirate).
In Deutschland hat sich die Zahl der von weiblicher Genitalverstümmelung betroffenen Mädchen und Frauen innerhalb von knapp 20 Jahren fast verdreifacht, so die Einschätzung von Terres des Femmes. 2017 lebten demnach mehr als 58.000 betroffene Frauen in Deutschland, 1998 waren es 21.000 Betroffene. „Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Migration aus Ländern, in denen es zur Tradition gehört, Mädchen zu beschneiden, muss dringend mehr in Aufklärung und Prävention investiert werden“, erklärt Bundesgeschäftsführerin Christa Stolle von Terres des Femmes.
Doch hier fehlt es an geschulten Fachkräften. „Nach wie vor berichten betroffene Frauen davon, sich von medizinischen Fachkräften nicht gut begleitet zu fühlen, da sie diese oft als unwissend und unsicher zum medizinischen und psychischen Hintergrund der Praktik wahrnehmen. Die befragten Fachkräfte äußern dieselbe Unsicherheit und bestätigen, dass sie nicht wissen, ob und wie sie das Thema ansprechen können, ohne ‚Betroffene vor den Kopf zu stoßen‘. Schulungen im Umgang mit betroffenen und bedrohten Mädchen und Frauen sind in Zukunft dringend bundesweit einzuführen“, so in einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten empirischen Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland.
Es ist schwierig, generelle Aussagen über die Ausübung der Praktik zu machen, da verschiedene Gemeinschaften ihre eigenen Regeln haben. Es gibt laut WHO unterschiedliche Formen der weiblichen Genitalverstümmelung. Sie reichen vom (teilweisen) Abschneiden der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut (Typ I), über das Entfernen der inneren Schamlippen und der Klitoris (Typ II) bis hin zu einer zusätzlichen Verkleinerung der Vaginalöffnung durch Zunähen (Typ III). Bis auf eine winzige Öffnung zum Abfluss von Urin und Blut verschließt dann die entstehende Narbe die komplette Vagina. Beim ersten Geschlechtsverkehr und der Geburt des ersten Kindes wird dann die Vagina mit einem Messer wieder aufgeschnitten. Darüber hinaus gibt es noch die Sammelkategorie Typ IV für alle anderen schädlichen Verfahren für die weiblichen Genitalien für nicht-medizinische Zwecke, zum Beispiel: Durchstechen, Kratzen, Verätzen und Verbrennen.
In der Regel wird der Eingriff bei Mädchen im Alter zwischen vier Monaten und 15 Jahren vorgenommen. In ca. 4 von 5 Fällen wird er von oder unter Beisein von Vertrauenspersonen, z.B. Mutter, Großmutter, Tanten des Kindes oder von traditionellen Beschneiderinnen ohne Narkose und unter unhygienischen Bedingungen ausgeführt. Während des extrem schmerzhaften Eingriffs, werden Hände und Beine des Mädchens fixiert, entweder gefesselt oder festgehalten.
In einigen Regionen wird die weibliche Genitalverstümmelung zunehmend in Krankenhäusern durch ausgebildetes Gesundheitspersonal durchgeführt. Dieser Trend zur „Medikalisierung“ der Praktik erweckt zu Unrecht den Anschein eines normalen Eingriffs und eines reduzierten Gesundheitsrisikos. Auch diese Eingriffe verletzen das Menschenrecht auf die seelische und körperliche Unversehrtheit der Betroffenen.
Weibliche Genitalverstümmelung stellt eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar. Mit diesem Eingriff wird das Recht von Mädchen und Frauen auf körperliche Unversehrtheit auf das Gröbste verletzt und ihre Entwicklungschancen stark eingeschränkt. Die Abschaffung von FGM wurde von zahlreichen zwischenstaatlichen Organisationen, darunter die Afrikanische Union, die Europäische Union und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit, sowie in drei Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen gefordert.
Die Folgen sind gravierend und begleiten die betroffenen Frauen ihr Leben lang. Während und direkt nach dem Eingriff kann es zu akuten Komplikationen wie starkem Blutverlust, Kollaps, Schock, Wundinfektionen und der erhöhten Gefahr einer HIV-Infektion kommen. In extremen Fällen kann der Eingriff zum Tod durch Verbluten führen. Langzeitfolgen sind Probleme beim Urinieren, bei der Menstruation und bei der Geburt von Kindern (bis hin zum Tod von Mutter und Kind). Hinzu kommen vermindertes sexuelles Empfinden und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Bei infibulierten Frauen kann sich die Monatsblutung stauen, was häufig zu Komplikationen und Unfruchtbarkeit führt.
Nebst diesen physischen Konsequenzen der weiblichen Genitalverstümmelung, leiden Frauen und Mädchen oft auch unter einem psychischen Trauma durch den Eingriff. Mögliche Folgen dieses oft als traumatisch empfundenen Erlebnisses beschreiben Betreuungspersonen der Betroffenen wie folgt:
In betroffenen Gemeinschaften ist die weibliche Genitalverstümmelung tendenziell tabuisiert und das Thema wird extrem diskret behandelt. FGM wird in den Gemeinschaften selbst oft nicht als Menschenrechtsverletzung betrachtet, sondern als soziale Norm. Tradition, Respekt vor der älteren Generation, Gruppenzugehörigkeit und andere soziale Motive tragen zum Fortbestehen der Praktik bei. Wer die Tradition missachtet, wird häufig geächtet und ausgegrenzt – der Druck auf die Familien ist somit sehr groß.
Trotz der Vielfalt der Kontexte ähneln sich die Begründungsmuster häufig. Weibliche Genitalverstümmelung steht häufig in engem Zusammenhang mit weiteren schädlichen Praktiken wie der Kinderheirat. Obwohl die meisten Betroffen noch sehr jung sind, symbolisiert die Beschneidung oft den Übergang von Kindheit zum „Frau werden“. Vielerorts gelten nur beschnittene Mädchen als heiratsfähig und als gute Ehefrauen. Um die Ehre, das wirtschaftliche Auskommen und das gesellschaftliche Ansehen ihrer Töchter zu sichern, halten viele Eltern an der Praktik fest. Diese wird häufig auch als Gebot der Religion legitimiert, obwohl sie weder in der Bibel noch im Koran erwähnt wird, und nicht auf die Anhänger/innen einer bestimmten Religion beschränkt ist (sie betrifft sowohl Christinnen, Musliminnen, Jüdinnen als auch Zugehörige anderer Religionen). In vielen afrikanischen Gesellschaften wird der beschnittene Körper als ästhetische Norm erlebt. Auch medizinische Mythen sind weit verbreitet.
Weibliche Genitalverstümmelung sagt viel über gesellschaftliche Machtverhältnisse und Geschlechterrollen aus. Die Praktik ist Ausdruck einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung und stellt eine schwere Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen dar. Hintergrund ist die Kontrolle der weiblichen Sexualität. Frauen, die kaum oder keine Freude an Sexualität haben können und sie zum Teil als schmerzhaft empfinden, werden kein Interesse an (anderen) Männern entwickeln, so die Begründung.
Weibliche Genitalverstümmelung wird hauptsächlich von den weiblichen Älteren gehütet und vollzogen, obwohl viele von ihnen selbst darunter leiden. Viele Frauen, die ihre Töchter der Praxis aussetzen, verurteilen sie eigentlich selber. In den meisten Ländern (19 von 29), in denen weibliche Genitalverstümmelung besonders häufig konzentriert ist, ist die Mehrheit der Mädchen und Frauen der Meinung, dass sie enden sollte (siehe Grafik links). Hier wird deutlich, wie groß das Dilemma der Frauen ist, zwischen ihrer persönlichen Haltung und dem gesellschaftlichen Druck zu bestehen. Dass die Frauen diese schwere Bürde tragen, liegt auch an der weit verbreiteten gesellschaftlichen Norm, die Frauen für das Gelingen von Ehe und Familie verantwortlich macht und an der nach wie vor hohen wirtschaftlichen Abhängigkeiten gegenüber Männern.
Da weibliche Genitalverstümmelung in den betroffenen Gemeinschaften kulturell tief verankert ist, kann die Praktik folglich nur überwunden werden, wenn es zu einem kollektiven Wandel kommt. Gesetzliche Verbote und Maßnahmen gesundheitlicher Aufklärung reichen oft nicht aus, um neben einer Einstellungs- auch eine nachhaltige Verhaltensänderung und damit eine Abkehr von der Praktik herbeizuführen.
In den letzten 10 Jahren konnten viele Erfahrungen und gute Praktiken gesammelt werden, um weibliche Genitalverstümmelung zu reduzieren, wie beispielsweise der moderierte Dialog zwischen verschiedenen Generationen, die Gewinnung von Einflusspersonen wie religiöse und traditionelle Autoritäten, Lehrkräfte und medizinisches Personal sowie eine verbesserte Bildung für Mädchen. Es gilt, diese Ansätze jetzt massiv auszuweiten. Etwa die Hälfte der 28 afrikanischen Staaten, in denen weibliche Genitalverstümmelungen verbreitet sind, hat die Praxis verboten. Ein gesetzliches Verbot kann unterstützend zu diesen Maßnahmen wirken, da es die Mädchen darin unterstützen kann, sich der Praktik zu entziehen. Ausschließlich gesetzliche Verbote ohne gesellschaftlichen Dialog können aber auch dazu führen, dass weibliche Genitalverstümmelung heimlich unter noch schlechteren Bedingungen und bei noch jüngeren Mädchen durchgeführt wird.
Einige Beispiele aus der Praxis: UNICEF unterstützt breit angelegte Bildungsprogramme für Mädchen, Frauen, Jungen und Männer. So setzt oft ein Umdenken ein und die Dörfer beschließen gemeinsam, sich von dem Ritual zu verabschieden. Mehr als 6.000 Dörfer in Senegal haben sich bereits von der Praxis verabschiedet – und immer mehr Gemeinden schließen sich der Bewegung an. Das Bildungs- und Aufklärungsprogramm von UNICEF und seinen Partnern überzeugt Frauen und Männer, dass Mädchen ein Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit haben – und dass sie Todesfälle und lebenslange Beschwerden gemeinsam verhindern können. Bildung und Dialog sind der Schlüssel zum Erfolg im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Frauen, die lesen und schreiben können und ihre Rechte kennen, entwickeln das Wissen und das Selbstbewusstsein, Probleme offen zur Sprache zu bringen. Denn häufig sind auch andere Dorf- oder Stadtbewohner weniger überzeugt von der Tradition als zunächst angenommen. Nach vielen Gesprächen entscheiden die Dorfgemeinschaften schließlich zusammen, die Verstümmelung zu beenden.
Auch die deutsche Entwicklungspolitik setzt sich entschieden gegen weibliche Genitalverstümmelung ein. Seit 1999 unterstützt das BMZ Maßnahmen zur Überwindung von FGM in mehreren Kooperationsländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Aufklärung, Sensibilisierung und Dialog auf lokaler Ebene werden mit der Kompetenzstärkung von Institutionen und Organisationen sowie der Politikberatung auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene kombiniert. Mit diesem Mehrebenenansatz sollen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die schädliche Praktik zu überwinden. So erarbeitete beispielsweise die GIZ im westafrikanischen Burkina Faso gemeinsam mit dem Bildungsministerium Unterrichtsmaterialien zur Prävention von FGM. Gemeinsam mit Partnerorganisationen konzipierte die GIZ 2001 in Guinea außerdem die Methode des Generationendialogs, bei dem Frauen und Männer unterschiedlichen Alters miteinander diskutieren und sich aktiv an der Entscheidungsfindung gegen die Fortführung der Praktik beteiligen. Guinea hat nach Somalia die weltweit zweithöchste Prävalenz von FGM: 97 % der Frauen sind dort beschnitten. Aktuell finden im Rahmen eines Vorhabens zur reproduktiven Gesundheit Dialogforen zu FGM zwischen religiösen Autoritäten und Gesundheitsexpert*innen statt. In den nächsten Jahren sollen lokale Partnerorganisationen vermehrt in ihrem Engagement gegen FGM gefördert werden. Außerdem werden Schulungen für Gesundheitspersonal organisiert, um einerseits eine angemessene Behandlung von FGM-verursachten Komplikationen zu verbessern und andererseits weitere Beschneidungen zu verhindern.
Auch die KfW setzt sich bspw. in Sierra Leone gegen FGM ein. So wurde mit Unterstützung der KfW unter anderem ein Fonds aufgelegt, der gemeindebasierte und Nichtregierungsorganisationen in die Lage versetzen soll, diesbezügliche Projekte in eigener Verantwortung durchzuführen. Von dem Fonds haben inzwischen insgesamt über 100 zivilgesellschaftliche Organisationen und mehr als 17.000 direkt Begünstige profitiert. Im Rahmen eines Projektes des Kinderhilfswerks Plan International suchen gut vernetzte Multiplikator/innen den Dialog mit Mitgliedern ihrer jeweiligen Communities und nutzen private Zusammenkünfte, Veranstaltungen und Internetradiosendungen, um zum Thema Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung zu sensibilisieren.
Auch in Deutschland gibt es dringenden Handlungsbedarf, bezüglich des Umgangs mit weiblicher Genitalverstümmelung. Die Schulung von medizinischen Fachkräften, der Aufbau von Netzwerken zum Erfahrungsaustausch und eine spezifische traumatherapeutische Versorgung sind dringend geboten.
Laut UNICEF sprechen sich inzwischen fast zwei Drittel der Frauen und Männer in den von UNICEF untersuchten Ländern gegen weibliche Genitalverstümmelung aus (siehe Grafik). Das weckt Hoffnung, dass die Dynamik zur Abnahme von FGM weiter zunimmt und soziale Bedingungen schneller geschaffen werden können, die es der großen Mehrheit der betroffenen Frauen ermöglicht, ihren Töchtern dieses Schicksal zu ersparen.
Zwar ist die relative Anzahl der betroffenen Mädchen in den von UNICEF untersuchten Ländern zwischen 1985 und 2015 durchschnittlich von 51 auf 37 Prozent gesunken. Aufgrund der Bevölkerungsdynamik in diesen Ländern wird die absolute Zahl der Betroffenen jedoch bis zum Jahre 2030 weiter steigen. In von Hunger und Konflikten gebeutelten Ländern wie Somalia oder Irak besteht zudem die Gefahr, dass aufgrund der erhöhten wirtschaftlichen Abhängigkeit der Mädchen und fehlendem Zugang zu Bildung auch die prozentuale Zahl wieder steigt. So zeigen Daten von UNICEF, dass die Unterstützung von FGM unter Frauen abnimmt, je höher ihr Bildungsniveau ist.
Zudem ist die relative Abnahmegeschwindigkeit von Land zu Land sehr unterschiedlich. Auch verbergen Daten auf nationaler Ebene die Unterschiede zwischen Regionen innerhalb eines Landes. So wurden z.B. im Senegal im Durchschnitt 26% der Mädchen und Frauen beschnitten. Im Land selbst aber ist die Rate in einigen Regionen nur 4% hoch, während in anderen Regionen 9 von 10 Frauen beschnitten werden.
Laut UNICEF seien weitere 30 Millionen Mädchen und junge Frauen davon bedroht, in den kommenden 15 Jahren weiblicher Genitalverstümmelung unterzogen zu werden, sofern keine schnelleren Verhaltensänderungen in den jeweiligen Ländern stattfinden. Terres des Femmes geht sogar von mindestens 3 Millionen Mädchen und jungen Frauen jährlich aus. 13.000 seien allein in Deutschland in den kommenden Jahren gefährdet.
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Autor: GIZ Sektorprogramm „Menschenrechte umsetzen in der EZ“ und Sektorvorhaben „Gleichberechtigung der Geschlechter und Frauenrechte stärken“ in Kooperation mit Burkhard Vielhaber | info(at)kinder-und-jugendrechte.de | erstellt im Februar 2018