Im Jahr 2018 besaßen 98 Prozent aller 12 bis 19 Jährigen in Deutschland ein Smartphone, so die aktuelle JIM-Studie. Social Media, Whats App, E-Mail, Musik, Videos, Spiele, Fotos, Snapchat – dies alles und vieles mehr passiert schnell, häufig und parallel zur analogen Welt.
Dabei hat sich die analoge Welt der Kinder in den letzten 25 Jahren der Studie zur Folge kaum verändert. Über 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen treffen sich heute wie damals in ihrer Freizeit persönlich mit Freunden. Auch sportliche Aktivitäten und Bücher lesen sind seit Jahren gleichbleibend beliebt. Musizieren und Aktivitäten mit der eigenen Familie haben sogar leicht zugenommen.
Im Kontrast dazu hat sich die Medienlandschaft in diesem Zeitraum mit zunehmender Schnelligkeit und Intensität verändert. Ab Mitte der 90er Jahre begannen sich Personal Computer in den Industrieländern zu verbreiten. Das Internet war anfangs noch umständlich, langsam und teuer. Ab Ende der 90er Jahre verbreiteten sich Handys und wurden ab Mitte der 2000er Jahre auch für Kinder erschwinglich. SMS versenden war dann das Kommunikationsmedium der ersten Wahl. 2007 entstand SchülerVZ, das in Deutschland später von Facebook abgelöst wurde. 2012 erreichte die Beliebtheit von Facebook ihren Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits etwa 40 Prozent aller Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren ein Smartphone. Heute nutzen nur noch acht Prozent der unter 20-jährigen Deutschen Facebook für ihre tägliche Kommunikation, 82 Prozent hingegen WhatsApp, gefolgt von Instagram (51%) und Snapchat (46%). Um online zu gehen, benutzen 79 Prozent aller Jugendlichen primär ein Smartphone, nur 16 Prozent ein Tablet, Notebook oder PC.
Die Kinder und Jugendlichen von heute können aufgrund der schnellen Entwicklung nur selten auf das Erfahrungswissen Erwachsener zurückgreifen. Sie müssen sehr junge Eltern haben, wenn diese eine ähnliche digitale Sozialisation erfahren haben wie sie. Viele Eltern von Jugendlichen dürften in ihrer eigenen Kindheit noch gelernt haben, mit dem Wählscheibentelefon umzugehen. Kinder und Jugendliche sind daher gezwungen, selbst und gemeinsam mit ihrer Altersgruppe die individuelle Medienkompetenz zu entwickeln. Bei Problemen, die ihnen durch die Medien entstehen, z.B. Cyber-Mobbing, Online-Betrug oder Datenschutzverletzungen, wenden sie sich häufig zunächst an ihren eigenen Freundeskreis.
Jugendliche nutzen die sozialen Medien in erster Linie, um das zu tun, was sie in dieser Lebensphase überwiegend tun: sich beobachten und vergleichen, die eigene Anders- und Einzigartigkeit entdecken und entwickeln, sich selbst darstellen, sich behaupten, Gleichgesinnte finden, gemeinsame Aktivitäten planen und Neues ausprobieren. 80% der Jugendlichen geben an, soziale Medien (vor allem WhatsApp) primär zu nutzen, um persönliche Kontakte zu verfolgen und zu pflegen. Digitale und analoge Lebensräume verbinden sich so auf dynamische Weise. Die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten können als Bereicherung aufgefasst werden, denn sie ermöglichen einen intensiven und unkomplizierten Meinungs- und Erfahrungsaustausch in einem erweiterten persönlichen Netzwerk, der früher so nicht möglich war.
Diese intensivierte Beziehungspflege kann aber auch zu Stress führen. Immer erreichbar sein zu müssen, um nichts zu verpassen und nicht ausgeschlossen zu werden, kann belastend sein und mittelfristig die Fähigkeit beeinträchtigen, sich länger am Stück auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Zu diesem Schluss kommt der 15. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Labile Jugendliche, die soziale Anerkennung über die sozialen Medien suchen, sind hier stärker betroffen. Ob die Nutzung sozialer Medien per se zu mehr Alltagsstress führt, ist jedoch nicht bestätigt.
Die neuen Medien schaffen zusätzlich geschützte Räume, z.B. für den Austausch von Migranten und Migrantinnen, wie sie sich besser in der Kultur des Gastlandes zurecht finden können ohne die eigene Identität aufzugeben, oder für Sub-Kulturen Jugendlicher, die gesellschaftliche Stereotypen durchbrechen – und das über Ländergrenzen hinweg.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Mainstream der Mediennutzung bestehende Rollenbilder wie auch soziale Ungleichheit weiter verfestigt werden. Das „Onlinesein“ für Unterhaltungszwecke – in erster Linie für Musik- und Videostreaming – ist in allen Bildungsschichten in Deutschland ähnlich hoch – so die JIM-Studie. Gymnasialschüler und -schülerinnen nutzen das Internet jedoch häufiger zur Informationssuche für ihre persönliche Weiterbildung und um schulische Anforderungen leichter meistern zu können. Jungen aus Haupt- und Realschulen verbringen im Vergleich mehr Zeit für Gaming. Kinder aus bildungsfernen Schichten fällt es schwerer, Medienkompetenz zu erlangen. Sie hinterfragen die Glaubwürdigkeit von Quellen seltener, geben persönliche Daten schneller preis, erleben es häufiger, dass private Bilder ungewollt in die Öffentlichkeit gelangen, sind häufiger Opfer von Cybermobbing und fühlen sich eher von der Kommunikationsintensität der sozialen Medien gestresst.
Die schnellen, länderübergreifenden Vernetzungsmöglichkeiten der neuen Medien schaffen auch neue Möglichkeiten der politischen Partizipation. Die Fridays for Future Bewegung zeigt dies eindrucksvoll. Sie mobilisiert inzwischen 1,6 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in 110 Ländern auf allen sieben Kontinenten. Sie positionieren sich mit klaren Forderungen, bringen sich in Diskussionen ein und aktivieren andere. Laut einer repräsentativen Umfrage unter den Demonstrationstrierenden in Deutschland wurde etwa ein Drittel über soziale Medien und eine weiteres Drittel über Freunde und Bekannte mobilisiert.
Im globalen Süden ist die digitale Entwicklung eine ähnlich rasante, zumindest in den meisten Ländern, allerdings auf einem anderen Niveau. Vor Ausbau des Mobilfunknetzes Anfang der 2000er Jahre hatten z. B. nur zwei bis drei Prozent der Afrikaner und Afrikanerinnen Zugang zu einem Festnetzanschluss. Dieser war beschränkt auf die wichtigsten Behörden, Wirtschafts- und Machteliten sowie Zentralen der Geberorganisationen in den Hauptstädten der Länder. Während vor knapp 20 Jahren fast alle Menschen in Afrika abgeschnitten von jeglicher Telekommunikation waren, beträgt die Mobilfunkabdeckung heute etwa 80 Prozent der besiedelten Gebiete Afrikas. Nahezu ähnlich viele Menschen, etwa 75 bis 80 Prozent in diesen Gebieten dürften direkt oder indirekt Zugang zum Mobilfunknetz haben (vgl. Digitale Brücke oder digitale Kluft). Längst nicht jede Person besitzt ein eigenes Endgerät, aber es ist keine Seltenheit, dass man sich im Familien- oder Freundeskreis ein Gerät teilt. Dabei beträgt der Anteil der Smartphones etwa 40 Prozent. Einfache Handys sind im ländlichen Afrika nach wie vor beliebter, denn sie sind deutlich günstiger im Erwerb und ihre Akkulaufzeit deutlich länger.
Die Potentiale wie Risiken dieser mobilen Medien sind der Art nach ähnliche wie in den Industrieländern, nur höher:
Der UN Menschenrechtsrat hat 2012 bekräftigt, dass Menschenrechte online wie offline in gleicher Form gültig sind. Die in der Kinderrechtskonvention enthaltenen Rechte aus dem Jahre 1989 gelten daher auch im Internet. In diesem Kontext besonders erwähnenswert sind das Recht auf Zugang zu den Medien und Kinder- und Jugendschutz (Art. 17), Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 13) und Recht auf Privatsphäre und Datenschutz (Art. 16).
Der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen verfasst regelmäßig sogenannte „Allgemeine Bemerkungen“, die die Artikel der Kinderrechtskonvention auf der Grundlage der Rechtsentwicklung und Praxiserfahrung näher auslegen. Zurzeit arbeitet der Ausschuss an einer Allgemeinen Bemerkung zu Kinderrechten in Bezug auf das digitale Umfeld. Im März 2019 forderte der Ausschuss alle Interessierten auf, sich an der Erarbeitung der Bemerkungen zu beteiligen und hat 132 Beiträge von VN-Mitgliedstaaten, regionalen Organisationen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Privatsektor und Kinder- und Jugendgruppen erhalten hat. Die Beiträge sind auf der Seite des Ausschuss verfügbar. Das Ziel ist es, mit der Allgemeinen Bemerkung eine verbindliche Interpretation zu liefern, wie Staaten ihren in der Kinderrechtskonvention definierten Verpflichtungen im Zuge der Digitalisierung gerecht werden können, und einen neuen internationalen Standard für Kinderrechte in der digitalen Welt zu setzen. In der 20. Allgemeinen Bemerkung über die „Umsetzung der Kinderrechte während des Jugendalters“ hatte der Ausschuss bereits direkt Bezug auf die Risiken der digitalen Umgebung für Heranwachsende genommen und befürwortete Prävention durch Schulung von Eltern und Lehrern sowie der Verpflichtung der involvierten Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten einzuhalten.
Die Digitalisierung spielt in der Agenda 2030 nur eine wenig ausformulierte Rolle. Einzig in einem Unterziel kommt Digitalisierung explizit vor, im Ziel 9c: „Den Zugang zur Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) erheblich erweitern sowie anstreben, in den am wenigsten entwickelten Ländern bis 2020 einen allgemeinen und erschwinglichen Zugang zum Internet bereitzustellen.“ Das Ziel 5b stellt die „Nutzung von IKT zur Förderung der Selbstbestimmung von Frauen“ in Aussicht. Das im September 2015 verabschiedete Dokument wirkt vor dem Hintergrund der Digitalisierung bereits veraltet. Tatsächlich durchdringen die Anwendungsformen der künstlichen Intelligenz alle Lebensbereiche oder werden diese in naher Zukunft durchdringen.
Die Digitalisierung kann das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele behindern wie auch fördern. Sie kann soziale Ungleichheit verschärfen und durch Totalüberwachung die Macht von Autokratien verfestigen und damit Kinder- und Jugendrechte weiter einschränken. Andererseits bietet sie Kindern und Jugendliche Möglichkeiten, ihre Rechte organisiert einzufordern und soziale Bewegungen zu gründen. Digitale Technologien können das Monitoring von Indikatoren erleichtern. Eine Kernempfehlung des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung (WBGU) in seinem jüngsten Hauptgutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ ist, dass sich Deutschland und die EU für einen UN-Gipfel zum Thema „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ im Jahr 2022 einsetzen sollten. Angesichts von Big Data fordert der WBGU u.a. außerdem auf UN-Ebene eine „United Nations Privacy Convention“ einzurichten, um länderübergreifend das weltweite Menschenrecht auf Privatsphäre besser zu schützen.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Digitalen Agenda (2014 – 2017) dazu verpflichtet, den Menschenrechtsschutz im digitalen Raum zu stärken. Das BMZ hat 2017 eine digitale Agenda – „Die digitale Revolution für nachhaltige Entwicklung nutzen“ – vorgelegt. Sie soll eine Orientierung für die Implementierung von digitalen Projekten geben und so die Digitale Agenda der Bundesregierung konkretisieren. Im Rahmen des BMZ-Kinderrechtsaktionsplans „Agents of Change“ (2017 – 2019) werden daher auch die Rechte von Kindern und Jugendlichen in der digitalen Welt gefördert.
In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gibt es bereits einige erfolgversprechende Beispiele, um diesen Zielen näher zu kommen:
Wie die vielfältigen Beispiele zeigen, gibt es viele gute Ansätze in der Entwicklungszusammenarbeit, um Kinderrechte im digitalen Raum zu stärken. Zum Teil handelt es um große Projekte oder Initiativen, in anderen Fällen eher um Pilotvorhaben. Es muss noch mehr dafür getan werden, dass Kindern und Jugendliche die Potentiale eröffnet werden, die digitale Medien mit sich bringen, und sie trotzdem vor den einhergehenden Risiken geschützt werden.
Kinder und Jugendliche machen einen erheblichen Prozentsatz der global vernetzten Bevölkerung aus und ihr Anteil wird in Zukunft weiter zunehmen. Einer von drei Internetnutzern weltweit ist heute unter 18 Jahren alt. Die Internetabdeckung wird immer weiter in Regionen mit dem am schnellst wachsenden Anteil an Kindern und Jugendlichen vordringen. Im Jahr 2050 werden nach UNICEF-Schätzungen 37 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren aus Afrika stammen.
Das Internet, wie wir es kennen, wurde in erster Linie mit Blick auf erwachsene Nutzer entwickelt. Die politischen Entscheidungsträger und -trägerinnen stehen nun vor großen Herausforderungen, um mit dem rasanten Tempo des technologischen Wandels und seinen Auswirkungen auf das Leben von Kindern und Jugendlichen Schritt zu halten. Es bedarf einen besseren Schutz der Privatsphäre, Anlaufstellen für Betroffene mit geschultem Personal und besser einklagbare Rechte. Eine Verbesserung des regulatorischen Rahmens sollte unbedingt unter Einbeziehung von Kindern und jungen Erwachsenen erfolgen.
Letztendlich ist der digitale Raum ein Abbild des analogen, der zusätzliche und sehr schnelle Informations- und Vernetzungsräume schafft. Bildung ist auch hier der Schlüssel für eine positive Entwicklung. Der WGBU schlägt in seinem Gutachten daher den Pakt „Zukunftsbildung“ vor. Er soll – bezogen auf Deutschland – Kindergärten, Schulen und Berufsschulen durch Investitionen stärken. Er stellt Medienbildung und die Reflexion über Qualitäten digitaler Informationsräume stärker in den Vordergrund und soll letztendlich helfen, die Anforderungen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung oder Global Citizenship Education zu erfüllen. Wenn hierzu auch diejenigen einbezogen werden, um deren Zukunft es letztendlich geht, ist die Herangehensweise auch für die Entwicklungszusammenarbeit interessant.
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Autor: Burkhard Vielhaber in Zusammenarbeit mit dem GIZ Sektorprogramm Menschenrechte inklusive Kinder- und Jugendrechte
info(at)kinder-und-jugendrechte.de
erstellt im Juni 2019
Die Inhalte dieses Artikels geben die Meinung des Autors und nicht notwendigerweise die der GIZ oder des BMZ wieder.